Corso regionale di formazione ecumenica
LaVerna 11.-14.7.21
Pfarrerin Annette Herrmann-Winter

Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. Es ist noch nicht getan oder geschehen, es ist aber im Gang und im Schwang. Martin Luther 

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer,
ich danke herzlich für die Einladung zu diesem „corso regionale di formazione ecumenico“. Ich freue mich, dass Sie mich als lutherische Pfarrerin angefragt haben, hier einige Aspekte der protestantischen Spiritualität und des Themas „Heiliger Geist“ darzustellen.
Ich bin Pfarrerin aus einer Region in der Nähe von Frankfurt und seit März 2020 im Pfarramt in der lutherischen Gemeinde Toskana-Emilia Romagna und den Marken. Unser Sitz ist in Florenz, dort haben wir eine Neugotische Kirche am Arnoufer von 1898 und laden im Wechsel mit der Schweizerisch-Reformierten Gemeinde jeden Sonntag um 10:45 zum Gottesdienst ein.
Unsere Gemeindemitglieder sind nicht alle lutherisch. Sie kommen aus verschiedenen Regionen in Deutschland, in denen es unterschiedliche Traditionen des Protestantismus gibt.
Viele Regionen sind eher an der Tradition von Calvin und Zwingli, den Schweizer Reformatoren, orientiert.
Gestatten Sie mir deshalb, dass ich zwar mit einem Lutherzitat beginne, mich aber nicht beschränke auf die lutherische Tradition.

Noch eine Vorbemerkung zum Ablauf.
Wir haben einen Zeitrahmen von ca. 90 Minuten.
Ich lade Sie zwischenhinein ein, in einen Austausch mit Ihren Nachbarn zu gehen, um Aspekte meines Beitrags zu vertiefen und aus Ihrer Sicht zu betrachten.

Inhaltlich mache ich mit Ihnen einen Gang von den Anfängen der Reformation über Entwicklungen in der weiteren Geschichte bis zur protestantischen Spiritualität heute. Mein Blick auf die evangelische Spiritualität ist natürlich geprägt vom deutschen Protestantismus.
Aber es gab im evangelischen Europa überall vergleichbare Entwicklungen.

1.Die Anfänge der Reformation: Weihnachten und Gerechtigkeit vor Gott
Beginnen wir also mit Martin Luther. Als Mönch des Augustinerordens kam er aus einer tiefen Spiritualität der katholischen Klostertradition. Stundengebete gehörten zu seinem Tagesrhythmus. Die Inkarnation, also die Menschwerdung Gottes in einem Säugling, lässt ihn ein Gottesbild entwickeln, in dem der gütige Vater, der für seine Kinder sorgt, ein zentrales Thema ist. Die Weihnachtsgeschichte ist daher Gegenstand vieler Liedtexte, die Luther geschrieben hat. Im Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ finden wir Texte der Anbetung wie diesen: „ Euch ist ein Kindlein heut geborn, von einer Jungfrau auserkorn, ein Kindelein so zart und fein, das soll euer Freud und Wonne sein!“ (EG 24)

Luther weiß aus eigener Erfahrung, dass der Glaube ein Entwicklungsprozess ist. Immer verbunden mit Gewissensentscheidungen, die keine Konzilien uns vorgeben können. Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. Es ist noch nicht getan oder geschehen, es ist aber im Gang und im Schwang.
Diese Erkenntnis des Prozesshaften führt letztlich bei Luther zum Bruch mit der katholischen Kirche. Sein Gewissen ist allein an Gott gebunden. Papst und Konzilien können irren. Unser Gewissen und die Heilige Schrift nicht. Unser Leben und unsere Entwicklung als gläubige Menschen ist allein in einer
Dreiheit von „Glaube, Schriftlesung und der Gnade Gottes“ gehalten. Erlösung ereignet sich ausschließlich aufgrund der Gnade Gottes. Das findet sich in der lutherischen Spiritualiät immer neu zum Ausdruck gebracht.

2. Musik als Realpräsenz Gottes in der Welt:
Luther selbst schreibt viele Lieder und Andachten. Seine Spiritualität lebt mit und von der Musik. In der reformatorischen Tradition nach Luther spielt daher die Musik und das Liedgut eine zentrale Rolle. Zeitgleich mit der Reformation wurde der Buchdruck erfunden. Er hat die Verbreitung des evangelischen Liedgutes und des Bibeldrucks enorm beschleunigt.
Zum ersten Mal konnten Menschen die Bibel als gedrucktes Werk in Händen halten. Sie konnten selbst die Schrift lesen und auslegen. Das war ein enormer Schritt in der Demokratisierung der Gläubigen. Lieder beschreiben den Prozess des Glaubens. Sie zeigten Lebenswege mit Gott auf und dienten der Anbetung. Daraus entwickelte sich eine neue Form der Verkündigung: die Kirchenmusik. Die Werke Johann Sebastian Bachs stehen stellvertretend für die protestantische Spiritualität des 17. Jahrhunderts. Orgelwerke vertieften die Andacht und wurden zum zentralen Thema evangelischer Spiritualität. Es entstanden große Oratorien, wie z.B. das Weihnachtsoratorium oder die Passionen, in denen biblische Geschichte aufgeführt und in Arien die der Glaube zum Ausdruck gebracht wurde. Menschliches Leben in seiner ganzen Fülle und in Beziehung zu Gott wird darin thematisiert: Geburt und Tod, Erwachsenwerden und Altern, Gesundheit und Krankheit, tiefste Trauer und höchste Freude, bitterster Hass und innigste Liebe, schreckliches Leiden und völliges Glück. Ohne Musik ist die protestantische Spiritualität bis heute nicht denkbar. Musik ist und war Verkündigung. Bach bezeichnete die Musik als „Realpräsenz“ Gottes.

Meine eigene Begegnung mit Kirche und mein Werdegang als Pfarrerin wären ohne Musik niemals möglich gewesen. Ich saß Sonntag neben meinem Großvater auf der Kirchenbank. Er hatte eine tiefe Bassstimme. Ich verstand nichts. Aber ich erlebte die Musik. Das war mein Zugang zu Religion und
Kirche.
Mit der Musik waren Gesang, Sinnlichkeit und Emotionalität in die Spiritualität integriert. Heute würden wir das „ganzheitlich“ nennen. Bach wollte Musik zur „Ehre Gottes“ schreiben.

3. Liturgie: Gott feiern als Ausdruck protestantischer Spiritualität
Im 18. Jahrhundert durchzog den europäischen Protestantismus die sogenannte
„Erweckungsbewegung“. Das Vorbild war nicht mehr ein Pfarramt, das eine dominante Rolle in der Gemeinde spielte. Es ging vielmehr um die Gewinnung von Ehrenamtlichen mit verschiedenen Begabungen. Es entwickelte sich ein reiches liturgisches Leben, in dem die Ehrenamtliche eine tragende Rolle hatten. Sie übernahmen Lesungen, Fürbitten, teilweise auch Predigtaufträge.
Das Ziel war ein gottesdienstliches Leben, das auch im Alltag seinen Platz hatte. Man versammelte sich nicht nur sonntags, sondern täglich, um gemeinsam zu singen, zu beten und die Schrift auszulegen. Morgen- und Mittagsgebet, sowie Abendgebete hatten eine klare liturgische Form. Das Abendmahl wurde regelmäßig gefeiert. Es ging im Grunde um eine Lebensform für eine Gemeinschaft, die zusammen lebte und gemeinsam wirtschaftete. Als Vorbild diente Apostelgeschichte 2, die „kommunistische Gemeindestruktur“ der ersten Gemeinden des ersten christlichen Jahrhunderts. Die Losungen, Bibelworte für jeden Tag des Jahres, sind bis heute in sehr vielen evangelischen Gemeinden präsent und geben halt für den Tag.

4.Diakonie – die praktische Seite der Spiritualität
Evangelische Spiritualität lebt in der engen Beziehung von Gott, Individuum und Gesellschaft. Gerecht vor Gott sind wir aus Glauben und Gnade allein. Aus Vertrauen in den Gott, der unser aller Leben will. Dazu braucht es keine weiteren Bedingungen, die zu erfüllen wären. Keine Vermittler zu Gott, wie etwa Maria. Keine Heiligen als Fürsprecher.
Diese befreiende Spiritualität drängt nach Weitergabe an andere. So wie Paulus und die Jüngerinnen und Jünger wie Jesus selbst in die Verkündigung, in die Mission gingen, so drängt die Botschaft von der Erlösung nach außen. Protestantische Spiritualität will in die Gesellschaft wirken. Die Kirche bezeugt den Erlösungsgedanken und die Kraft der Auferstehung Jesu in der Hinwendung zu denen, die von uns oft übersehen werden.
Bei uns heißt das „Diakonie“. In der kath. Kirche. Kennen Sie das als „Caritas“.
Daran hängt die Glaubwürdigkeit des Glaubens.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts antwortet die evangelische Spiritualität deshalb auf die Aufklärung durch die sogenannte „Innere Mission“. Man wendet sich ab von der kolonialistisch geprägten Vorstellung der Mission in Übersee und richtet den Blick nach innen, also vor die eigene Tür. Und da gibt es wahrlich genügend diakonische Ansatzpunkte: In der Folge der Industrialisierung entstehen Elend und schreckliche Wohnverhältnisse der Arbeiter und Handwerker. In den Städten entstehen Slums. Die Kinder sind alleine, weil die Eltern im vollen Arbeitsrhythmus der Fabriken eingespannt sind. Soziale Absicherung, Kündigungsschutz, Schulpflicht, Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – all das gab es noch nicht. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Deutschland durch Bismarck eine Sozialgesetzgebung eingeführt.

In der evangelischen Kirche entstanden soziale diakonische Einrichtungen, in denen vor allem Kinder tagsüber betreut wurden. „Kirche ist nur in dem Maße christliche Kirche, in dem sie diakonische Kirche ist.“ (Johann Hinrich Wichern). Diakonie ist nicht mehr ein Nebenprodukt von Kirche. In ihr zeigt sich Gott in seinem Wesen. Spiritualität ist keine Privatangelegenheit, sondern muss nach außen wirken, um glaubwürdig das Evangelium zu verkünden. Dies wirkt sich auf die Lebens- und Liturgieformen in den diakonischen Einrichtungen aus. Man versucht, vor allem mit jungen Menschen, eine Spiritualität des Alltags gemeinsam zu leben.

Bis heute ist das diakonische Engagement das Kennzeichen der evangelischen Kirche. In Italien wissen z.B. viele Menschen nichts über die Evangelische Kirche. Aber sie wissen: die sie ist in Sozialprojekten engagiert. Es ist ein wesentlicher Teil des Profils evangelischer Gemeinden und Ausdruck ihrer Glaubenspraxis.

5. Ethik und Spiritualität: die ethische und politische Dimension der evangelischen Spiritualität
Zum diakonischen Auftrag kommt im 20. Jahrhundert ein Aspekt, den sich vor allem die lutherische Kirche in Deutschland bis dahin nie vorstellen konnte: die ethische Verantwortung in der Diktatur und die Aufforderung zum Widerstand gegen eine Obrigkeit, die nicht im Sinne Gottes handelt.
Der Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) bildete Pfarrer im Seminar aus. Die tagtäglich gelebte gemeinsame Glaubenspraxis war ein wesentlicher Teil der Ausbildung zum Pfarrberuf.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 und dem Ausschluss getaufter Juden aus der evangelischen und katholischen Kirche kommt Bonhoeffer zu der Einsicht, dass die Kirche Verantwortung gegenüber allen Mitgliedern einer Gesellschaft hat, denen von der Obrigkeit Unrecht geschieht. Galt bisher die Obrigkeit in den protestantischen Kirchen nach
der gängigen Auslegung von Römer 13 als von Gott eingesetzt, so rief Bonhoeffer nun zu zwei Aspekten gelebten Glaubens und gelebter Spiritualität auf, falls eine Obrigkeit nicht im Sinne des Evangeliums handelt:
1.den Staat, in dem Unrecht geschieht, nach der Legitimierung seines Handelns zu hinterfragen
2.Die Verpflichtung zur Unterstützung für alle Opfer dieses unrechten Staatshandelns.
Sein berühmter Satz: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“ ist Ausdruck seiner klaren Positionierung.
3. Mit einem dritten Aspekt überschreitet Bonhoeffer die bisherigen Grenzen des evangelischen gelebten Glaubens: falls die Situation es gebiete, könne, so Bonhoeffer, es eventuell nicht mehr ausreichen, „die Opfer unter dem Rad zu versorgen, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“. Für Bonhoeffer führt diese Erkenntnis in den aktiven Widerstand gegen Hitler. Am 5. April 1943 wurde er verhaftet und zwei Jahre später auf ausdrücklichen Befehl Adolf Hitlers als einer der letzten NS-Gegner, die mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 in Verbindung gebracht wurden, hingerichtet. Zuvor hatte er wesentliche Teile seiner „Ethik“ geschrieben, in der er eine sozial-ethisch
verantwortete Spiritualität vertritt, welche die evangelische Kirche weltweit zutiefst geprägt hat. Bonhoeffer war stark in der weltweiten Ökumene eingebunden. Für die evangelische Kirche weltweit hat er eine bleibende Ermutigung hinterlassen, eine staatskritische Haltung einzunehmen und den
Ruf zum Widerstand aus der gelebten Glaubenspraxis zu beantworten. Er hat damit die sozialethische Dimension lutherischer Spiritualität entdeckt und entwickelte in den Folgejahren der Diktatur Kriterien christlichen Handelns im Unrechtsstaat.
Er hat damit den Weg geebnet für viele Befreiungsbewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts, die vor allem in den Kirchen Lateinamerikas stattgefunden haben.
Bonhoeffer gehört zu den evangelischen Heiligen – Menschen, die exemplarisch etwas auf sich nehmen, was uns allen als Vorbild dienen kann.

6.Geistliche Erneuerung nach dem 2. Weltkrieg
Nach dem 2. Weltkrieg war die Zeit reif für eine geistliche Erneuerung der evangelischen Kirche. Dem Schuldbekenntnis, nicht brennender geliebt und geglaubt zu haben (Stuttgarter Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland) folgte in den 50er Jahren die Gründung evangelischer Kommunitäten, die nach den drei Grundregeln der monastischen Tradition leben:
• Gehorsam gegenüber der Leitungsinstanz
• Ehelosigkeit
• Verzicht auf Privatbesitz
In Deutschland, Frankreich und der Schweiz entstehen evangelische Kommunitäten, die der weltweiten Ökumene verpflichtet sind. Am bekanntesten ist wohl die bereits in Kriegszeiten 1940 gegründete Bruderschaft von Taizè. In Bayern wird die Communität Casteller Ring gegründet. In der Schweiz haben die Schwestern von Grandchamp bei Neuchatel den monastischen Ruf aufgenommen, eng angelehnt an die Liturgie von Taizè. 1979 erkennt die Evangelische Kirche in Deutschland mit ihrer Denkschrift „Evangelische Spiritualität“ die monastische Lebensform vorbehaltlos als evangelische Spiritualität an. Sie bricht damit mit der seit der Reformation
bestehenden Ablehnung der klösterlichen Lebensform und beschreitet neue Wege.
Regelmäßige Gottesdienste, Tageszeitengebete, Tagungen und Seelsorge sind die zentralen Themen der evangelischen Kommunitäten. Immer mehr Kirchengemeinden versuchen, die Verbindung von vor Ort vorhandenen evangelischen Klöstern zu leben und laden zu gemeinsamen Gebetszeiten oder
Meditationen ein. Sie nehmen das wachsende Interesse an evangelischer Spiritualität auf und bieten Gästebetreuung an. Kloster auf Zeit, Einkehrtage und spirituelle Begleitung sind ihren Schwerpunktthemen.
Ich habe selbst mehrere Monate in der Kommunität von Grandchamp mitgelebt und kehre dort jedes Jahr wieder für einige Tage ein, um mich auszurichten in meinem Glauben und meinen geistlichen Fragen.

Die Klöster sind häufig untereinander auch weltweit verbunden. Sie empfangen Besucherinnen und Besucher aus anderen Kirchen. Diese bringen spirituelle und politische Themen aus ihren Ländern mit. Die evangelischen Klöster haben daher einen wesentlichen Anteil an dem Einzug der ökumenischen Spiritualität im Protestantismus. Damit wird die protestantische Spiritualität auch in einem weiteren Sinne politisch. Die Erkenntnis, dass ohne den Aufstand gegen ungerechte Verhältnisse weltweit kein Frieden zu erreichen ist, wird verknüpft mit dem Engagement für die Bewahrung der Schöpfung.
Diese Impulse wirken sich auch auf die Gestaltung von Liturgien und das protestantische Liedgut aus. Zunehmend sind auch junge Leute angezogen von kommunitärem Leben. Sie suchen nach Glaubenserfahrungen in einer mittlerweile sehr komplexen Vielfalt spiritueller Angebote. Die  Jugendkonferenzen von Taizè verbinden jährlich Tausende von jungen Menschen in der Suche nach Begleitung in den aktuellen Fragen des Lebens.

7. Feministische Theologie: Spiritualität von Frauen kann anders sein als die von Männern
Wie reden wir von Gott? Welches Bild haben wir von Gott? Das sind zentrale Fragen der Theologie. Seit den 80er Jahren leistet die feministische Theologie einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung der evangelischen Theologie weltweit. Dabei geht es vor allem um das Anliegen, die Vielfältigkeit Gottes bewusst in den Blick zu nehmen. Z.B. bewusst zu machen, dass wir von Gott auf unserem eigenen Erfahrungshintergrund reden. Die Feministische Theologie hat herausgearbeitet, wie stark die Theologie geprägt ist von männlichen Gottesbildern, von überkommenen Rollenmustern, Weltbildern und Geschichtsdeutungen. Sie hat demgegenüber die Bilder, mit denen wir von Gott reden, wieder geöffnet und den Reichtum biblischer Bilder in der Rede von Gott zutage gefördert.
Sie nimmt die Vielfalt der Geschlechter, ihrer Erfahrungen, Gottesbeziehungen und Glaubensgeschichten in den Blick.
Mittelalterliche Mystikerinnen wie Birgitta von Schweden, Juliana von Norwich und Hildegard von Bingen werden in der lutherischen Kirche wieder entdeckt und gelesen. Es entwickelt sich eine „lutherische Praxis der Spiritualität und liturgischer Ausdrucksformen des Glaubens“. Nicht zuletzt bringt der feministische Ansatz im lutherischen Kontext auch die Bedeutung der „Fürsorge für die Erde als wesentliches Element [unserer] spirituellen Orientierung auf das Leben hin“ in den Fokus.

Im Zuge der Feministischen Theologie und Spiritualität entstehen Liturgien, in denen deutlich auf Sprache geachtet wird. Frauen fühlen sich nicht mehr automatisch mit angesprochen, wenn von „Christen“ gesprochen wird. Gebete werden sensibler formuliert. In der historische-kritischen Bibelauslegung kommt die tragende Rolle der Frauen in den urchristlichen Gemeinden zum
Ausdruck. Das Wissen, dass es nicht nur Männer gab, die Jesus nachfolgten. Sondern auch Jüngerinnen und dass Frauen in der Gemeindeleitung aktiv waren, verändert den Blickwinkel. Frauen beginnen, Gottesdiensträume anders zu gestalten, sodass Schönheit und Ästhetik neu in den Blick kommen.

 8. Entwicklungen in die Zukunft: Weiter im Prozess
Evangelische Spiritualität findet hoffentlich auch in der Zukunft jeweils neue Ausdrucksformen. Sie ist – wie im Lutherzitat anfangs gezeigt – im Prozess, im Werden. Unsere Spiritualität, unser gelebter Glaube, entwickelt sich weiter, weil auch unser Glaube sich weiter entwickelt. Wir müssen uns als Menschen den Fragen des Lebens stellen. Die Bewältigung von Krisen verändert uns. Und so muss auch unser Glaube andere Ausdrucksformen finden. Die drängenden Fragen unserer Zeit müssen eingebunden werden in eine tägliche Praxis der Christinnen und Christen.
Die Ökumene hängt immer noch an der Diskussion, ob Evangelische und Katholische gemeinsam Abendmahl feiern können. Das ist zwar ein zentrales Anliegen, aber die Menschen leben sie bereits und suchen nach Antworten auf andere, drängende Fragen unserer Zeit. Wir sind hier in einem sanctuario des Franziskus. Die Fragen nach dem Umgang mit der Schöpfung, der Würde der Tiere und die Herausforderungen des Klimawandels sind drängend und exemplarisch für die Aufgaben, die vor unseren Kirchen liegen. An ihnen wird die Glaubwürdigkeit unserer Kirchen gemessen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!

Literatur
Peter Zimmerling, Erscheinungsformen evangelisch-lutherischer Spiritualität
In: Hermann Schoneauer (Hg), Spiritualität und innovative Unternehmensführung, Dynamisch Lebens gestalten, Bd 3, Stuttgart 2011, 244-261

Lutherischer Weltbund, www.lutheranworld.org
Impulspapier des Rates der EKD, Kirche der Freiheit
Thesen der lutherischen Kirche in Bayern zur Spiritualität

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